Freitag, 6. Juni 2003
Vom Citoyen zum Blogger

Roh-Baustein aus "Medien und Fälschung"

Freie Meinungsäußerung und eine Öffentlichkeit, die seit Ende des 18. Jahrhunderts nicht nur über politische Ereignisse räsoniert, sondern diese (zumindest auf dem Papier von Verfassungen und Grundgesetzen) mitbestimmt, gelten heute als Grundlage von Demokratie. Publizität soll das Funktionieren jener bürgerlichen Öffentlichkeit garantieren, wie sie sich in England, Frankreich, den USA und schließlich auch Deutschland im Verlauf der Aufklärung gebildet hatte. Nicht von ungefähr zirkuliert in den Tagen der Französischen Revolution auf den deutschen Straßen folgender Spottvers:

"Das große Losungswort, das ein jeder kräht,
Vor dem in ihren Staatspersücken
Sich selbst des Volkes Häupter bücken,
Horch auf! Es heißt – Pubilizität."

In der "Declaration des Droits de l'Homme et du Citoyen" vom 26.8.1789 heißt es im §11: "Die freie Mitteilung der Gedanken und Meinungen ist eines der kostbarsten Rechte des Menschen. Jeder kann mithin frei sprechen, schreiben, drucken, mit Vorbehalt der Verantwortlichkeit für den Missbrauch dieser Freiheit in den durch Gesetz bestimmten Fällen." Und Thomas Jefferson, einer der Gründungsväter der Vereinigten Staaten von Amerika und Bewunderer der französischen Aufklärung, war sich sicher, dass die Freiheit der Medien "der wirksamste Weg zur Wahrheit" sei. Doch die "Freedom of Speech", wie sie im First Ammendment zur US-Verfassung festgehalten wird, war freilich alles andere, als ein Plädoyer für die Wahrheit und die Grundsätze eines objektiven und ausgewogenen Journalismus: Es war das Recht auf freie, schrille Meinungsäußerung.

So formulierte Arthur Young, ein englischer Augenzeuge der Französischen Revolution, im Juni 1789 sein Erstaunen über die Vielzahl in Paris erscheinenden illegalen Broschüren. Für Young war der Aritkel 11 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung in erster Linie der Freibrief für die Verbreitung von aufrührerischen Ideen, Verleumdungen und falschen Nachrichten.

Masse und (Ohn-)Macht

Schon im 19. Jahrhundert, also in jener Epoche, in der Zeitungen größere Verbreitung finden, entlarvt man das kritische Potenzial der öffentlichen Meinung als Chimäre. Alexis de Tocqueville etwa ortet in der öffentlichen Meinung eher den Zwang zur Konformität als eine Speerspitze der Kritik: "In dem Maße, in dem die Bürger sich einander angleichen und ähnlicher werden, verringert sich bei jedem die Neigung, einem bestimmten Menschen oder eine bestimmten Klasse blindlings Glauben zu schenken. Die Geneigtheit zum Glauben an die Masse nimmt zu, und immer mehr ist es die öffentliche Meinung, die die Welt regiert." Die Öffentlichkeit, so Tocqueville, besitze bei den demokratischen Völkern eine einzigartige Macht: "Sie überzeugt nicht von ihren Anschauungen, sie zwingt sie auf und prägt sie in den Gemütern durch einen gewaltigen geistigen Druck aller auf den Verstand des einzelnen ein. In den Vereinigten Staaten übernimmt die Mehrheit die Aufgabe, den einzelnen eine Menge fertiger Meinungen vorzusetzen, und enthebt ihn damit der Verpflichtung, sich selbst eine eigene zu bilden."

Tocquevilles Einschätzung der öffentlichen Meinung erscheint wie eine Vorahnung auf das, was nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzte. Mit dem Fernsehen war das wohl wirksamste Medium für die öffentliche Masse geschaffen: Eine Botschaft wurde von ein paar Sendeanlagen zu einem Millionenpublikum gebracht. Inhalte und Format dieser Botschaften wurden nach dem kleinsten gemeinsamen Nenner des Publikums zugeschnitten, das von den so genannten "Broadcastern" selbst bis in die 1980er Jahre als relativ homogene Gruppe eingeschätzt wurde.

Ab den 1980er Jahren brachten technologische Veränderungen den zentralisierten Status von Medienmachern und Broadcastern ins Wanken: Zeitungen konnten durch neue Medientechnologien simultan an unterschiedlichen Orten gedruckt und ausgeliefert, Musik durch die Entwicklung des Walkmans an allen nur erdenklichen Plätzen gehört werden, und der Videorecorder ermöglichte erstmals die Zusammenstellung des Fernsehprogrammes nach individuelleren geschmacklichen Vorlieben: Das Massenpublikum war quantitativ eine Masse, zerfiel aber fortlaufend in zahllose Segmente mit ausgebildeten Gruppeninteressen.

Die Verbreitung des Internet in den späten 1990er Jahren sollte auf diesen Trend noch eine neue Entwicklung draufsetzen: Durch die Ausbreitung von Webseiten und Weblogs wurde der Rezipient selber zum Medienmacher und Redakteur. Im Internet entstanden neue Öffentlichkeiten, die nicht nur von traditionellen Medienmachern besetzt wurden; eher haben viele der traditionellen Medienmacher den Trend verschlafen und müssen heute zusehen, wie sich der Informationsaustausch an ihren einst privilegierten Medienhochburgen vorbei entwickelt.

Ancien Regime anno 2003

Im Frühsommer 2003 kommt das Ancien Regime des Journalismus symbolisch ins Wanken. Bei der "New York Times", dem Pantheon des internationalen Qualitätsjournalismus, treten am 5. Juni 2003 Chefredakteur Howell Raines und sein Stellvertreter Gerald Boyd zurück. Die Zeitung zog mit dem Austausch ihrer Führungsetage die Konsequenz aus dem Fall Jason Blair, der im Mai bekannt geworden war. Der 27-jährige schwarze Journalist hatte über Jahre Dutzende Artikel gefälscht. Blair hatte Interviews erfunden, Fakten vorgetäuscht oder Inhalte aus anderen Quellen abgeschrieben und später als die seinen ausgegeben. Trotz anhaltender interner Kritik wurde Blair gefördert – man wollte einen der wenigen schwarzen Journalisten bei dem Blatt Karriere machen lassen. Das Bezeichnende am Fall der "New York Times" ist freilich weniger der Fälschungsvorwurf an sich, sondern der Rahmen in dem der Fall Blair debattiert wurde. In eine von Print-Sauriern wie der "NYT" oder der "Washington Post" getragenen Öffentlichkeit konnte der Fall Blair, der am Selbstverständnis einer ganzen Branche kratzte, nicht debattiert werden; in der Radio- und Fernsehöffentlichkeit noch viel weniger, da er deren Standards nicht betraf. Die Aufdeckung und Debatte des Falles Blair fand in einer rein vom Internet generierten Öffentlichkeit statt.

Wie schon im Fall des 2002 zurückgetretenen US-Senatsführers Trent Lott war rund um die Autoren von Weblogs (personalisierten, tagesaktuellen Webseiten) eine virtuelle Agora entstande, die radikaler und offener über den betreffenden Fall debattierte. Der frühere Print-Journalist Andrew Sullivan, eine der Speerspitzen in diesem Diksurs, brachte den Fall "New York Times" so auf den Punkt: "Vor fünf Jahren hatten die Macher der 'New York Times' noch mehr Macht als heute. Wenn sich Journalisten der 'Times' geirrt hatten, dann brachte man Tage später eine kaum auffindbare Korrektur. [...] Ein vatikan-ähnlicher Geheimbund ließ größere Kritik erst gar nicht nach außen dringen. Doch das Internet hat das alles geändert. Die Öffentlichkeit der Weblogs hat einen ganzen Chor öffentlicher Kritik und ein kritisches Bewusstsein über die Macher der 'Times' geschaffen. Diese Formen neuer Öffentlichkeit haben letztlich Transparenz in eine der geheimsten und verschworensten aller Institutionen gebracht."

Die ganz großen Saurier wurden unterdessen weiter gefüttert. Als man in den Weblogs den Fall "New York Times" diskutierte, erweiterte die US-Kommunikationsbehörde FCC den Einfluss großer Medienkonzerne auf dem US-Medienmarkt: Unternehmen wie der Rupert Murdoch News Corp. (Fox) oder AOL Time Warner (CNN, etc.) wurde ein größerer Anteil am Kuchen des regionalen US-Zeitungs- und Fernsehmarktes eingeräumt.

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