Freitag, 21. März 2003
Europa und der Irak-Krieg

Der Wissenschaftshisotiker Wolf Lepenis heute in der SZ. Ein angenhem nüchterer wie vor allem konstruktiver Blick in einer Zeit allseitiger Borniertheit, in der es scheint, als müssten die Gegner des Krieges noch eindimensionaler argumentieren, als dies George W. Bush tut.

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Die Stunde Europas

Es ist höchste Zeit, dass die Europäer den Krieg erklären: ihrer Zerrissenheit, ihrem Pessimismus, ihrer Zukunftsangst, dem Dauerbrüten über sich selbst, in dem Jacques Delors die größte Gefahr für unseren alten Kontinent sah. Zum Zeitpunkt des amerikanischen Angriffs gegen den Irak sollte die Stunde Europas schlagen.

Was wir gegenwärtig erleben, ist nicht die Teilung Europas, sondern die Teilung des Westens. Europäische Regierungen sind uneins – die europäischen Gesellschaften aber vereint die Ablehnung eines amerikanischen Krieges, der auch gegen das Völkerrecht geführt wird. Zerbrochen ist die AEU – die Amerikanisch-Europäische Union. Sie wird auf absehbare Zeit nicht zu reparieren sein, weil sie bereits nach dem Ende des Kalten Krieges von Vordenkern in Washington aufgekündigt wurde.

Der Fall der kommunistischen Regime im Osten läutete auch das Ende des Westens ein. Als die Sowjetunion auseinanderbrach, begannen im Pentagon Planspiele, die den USA „auf unabsehbare Zeit“ die Vorherrschaft in der Welt sichern sollten. Diese Planspiele erforderten einen monströsen Militärhaushalt, sie verlangten die Bereitschaft zum Präventivkrieg, sie zielten auf die Kontrolle „Eurasiens“ und erwähnten internationale Institutionen wie die UNO mit keinem Wort. Nach dem 11. September 2001 wurde aus dem „Plan“, wie er im Kabinettsjargon nur genannt wurde, Wirklichkeit. Richard Holbrooke sprach daraufhin vom Bruch mit einer „bipartisan tradition“, die über ein halbes Jahrhundert lang die amerikanische Außenpolitik bestimmt hatte.

Die Europäer haben diese Strategie, die auf den Abschied vom „Westen“ hinauslief, ernst, aber nicht ernst genug genommen. Sie entschlossen sich zur Erweiterung der Europäischen Union – und verhinderten damit die Spaltung Europas, die ein Wunschtraum von Donald Rumsfeld bleiben wird. Sie führten mit dem Euro die Gemeinschaftswährung ein. Um aber wenigstens die ersten Schritte auf dem Weg zu einer gemeinsamen Sicherheits- und Außenpolitik zurückzulegen, reichte selbst der Schock des Bürgerkriegs auf dem Balkan nicht aus. Die Irak- Krise hat die innerhalb Europas immer noch bestehenden Spaltungen nicht bewirkt, sondern nur schmerzlich sichtbar gemacht.

Aus dieser Krise kann Europa gestärkt hervorgehen – wenn die europäischen Regierungen den Mut zu einer gemeinsamen Politik auf lange Sicht finden. Jedes Land Europas hat nur auf dem alten Kontinent eine Zukunft. Selbst die britische Regierung bekam dies zu spüren, als ihr die USA klarmachten, dass es in der „Koalition der Willigen“ nur einen Willen gibt, den aus Washington.

Zu einer europäischen Politik auf lange Sicht gehört auch der Mut, auf das bisher Erreichte stolz zu sein. Die Vereinigten Staaten von Amerika wurden 1776 gegründet. 90 Jahre später zerfleischten sich die Amerikaner in einem blutigen Bürgerkrieg und waren danach noch lange nicht wirklich geeint. Knapp 60 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs arbeiten die Europäer am Entwurf einer gemeinsamen Verfassung. Ohne die Last der Erinnerung konnten die Amerikaner in der Neuen Welt zur Nation werden. Die vielsprachigen Europäer dagegen mussten sich vom Gewicht unzähliger, mörderischer Geschichten des nationalen Gegeneinander befreien. Dies ist keine kleine Sache – auch wenn die Vereinigten Staaten von Europa gegenwärtig mehr ein Versprechen als eine politische Wirklichkeit sind.

Der Enthusiasmus für die Vereinigten Staaten von Europa klingt heute leicht übertrieben. Und dennoch kann aus dem Konflikt mit den USA und aus der innereuropäischen Missstimmung eine wichtige Lektion für die europäische Zukunft erwachsen. Der Weltmachtpolitik der USA muss Europa das Engagement für die Lösung der großen Weltprobleme entgegensetzen.

Auf absehbare Zeit werden nur die USA in der Lage sein, eine Weltmachtpolitik zu betreiben. Diese Politik aber nimmt die Vernachlässigung weiter Problemfelder in Kauf. Sie schwächt die internationalen Institutionen, leugnet die Bedrohung durch Umweltkatastrophen und widersetzt sich dem Aufbau einer gerechteren Wirtschaftsordnung. Hier muss eine Weltproblempolitik ansetzen, der sich das ganze Europa mit Engagement und Phantasie widmet.

Europa kann dies aus einer Position der Stärke heraus tun: Die gesamte Europäische Union hat 100 Millionen Einwohner mehr als die USA und erwirtschaftet ein um ein Drittel höheres Bruttoinlandsprodukt. Zu dieser Stärke muss die Einsicht hinzukommen, dass die Vernunft der europäischen Politik nicht aus dem Traum des Pazifismus hervorgehen kann. Europa wird sich für die Lösung der Weltprobleme nur engagieren können, wenn es so wehrhaft wird, dass es seine inneren Konflikte ohne die USA regeln und sich im Rahmen der UNO militärisch in der Welt engagieren kann.

Die europäischen Nationen haben Jahrhunderte blutiger Kriege hinter sich. Allein im Ersten Weltkrieg verlor Frankreich drei Mal so viele Soldaten, wie Amerika in allen Kriegen, die es bisher führte. Jetzt sind die Vereinigten Staaten von Europa keine Utopie mehr, auch wenn ihre Verwirklichung noch lange Zeit in Anspruch nehmen wird. Europa hat bereits viel erreicht. Es kann aus der gegenwärtigen Krise lernen und gestärkt hervorgehen.
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