Dienstag, 11. Mai 2004
Ich, Mutter, Blog

Blogs, Seelenstrip und Voyeurismus.

(Die Welt des Hermann Liszt, Teil 1)

Die Zeiten, da Seelenstriptease eine relativ diskrete (vielleicht durch die Herbeiziehung professioneller Unterstützung vor allem auch teure) Angelegenheit war, könnten vorbei sein. Blogs ersparen zwar nicht den Therapeuten, sie sind aber einen schöne Möglichkeit, den eigenen Narzismus nicht andauernd mit sich selbst ausmachen zu müssen. Man lädt sich ein paar Freunde auf Zeit ein, die mitmachen beim Sich-öffentlich-Entkleiden. Wir könnten auch sagen: Fiktive Teile unterschiedlicher Ichs koppeln wild in der virtuellen Gegend umher.

Herman Liszt zum Beispiel. Liszt ist Single. Dafür geht er Woche für Woche zu seiner Ersatzmutter. Sie verlangt 70 Euro dafür. Er spricht mit ihr über selbstgemalte Bilder, darüber, was ihn anstrengt, aufregt und womit er manchmal sogar nicht fertig wird. Nach den 50 Minuten Ersatzmutter geht es ihm darauf folgend für gut eine halbe Stunde besser. Doch irgendwann verpufft dieser Effekt.

Besser fühlt sich Liszt, wenn er sich auf seinem Weblog ausbreitet und eine mittlerweile, wie er selbst so gerne sagt, "stattliche Community" anzieht (dies vielleicht deshalb, weil er sich ja vor dieser so gerne auszieht). Das Gute am Bloggen für den Neurotiker Liszt: Er ist von sich abgelenkt, und das obwohl Liszt doch die ganze Zeit um sich selbst kreist. Liszt sieht sich zu, wie er andauernd Schnittchen seines Ich in die Auslage legt, denn im Weblog ist er ja >>Bleistein<< - und in diesem Zusammenhang gilt für Liszt: Ich ist ein anderer. Zumindest meint Liszt das. Einsichten à la "Weblogs sind Scharniere zwischen dem narzistischen Opfer und dem Voyeur" hält Liszt für stichhaltig, weil er sie selbst ähnlich, wenn auch komplizierter, formulieren würde.

Als Bleistein hat Liszt mittlerweile eine richtige Therapiegruppe aufgebaut. Manche seiner Gruppenpartner kennt Bleistein aus dem Alltag. Sie haben ähnliche Neurosen wie Liszt, also auch zumindest ein Weblog (manchmal auch mehrere, denn wer geht schon ausschließlich zu einem Arzt). Manche aus seiner Therapiegruppe meint Liszt zu kennen, manche kennt er dafür gar nicht. Jene Gruppenmitglieder, die Liszt bzw. Bleistein nur vom Namen in der Gruppe her bekannt sind, interessieren ihn (oder sollten wir zum jetzigen Zeitpunkt bereits sagen: "die beiden"?) am meisten. Sie ziehen Liszt magisch an, über sie mag er mehr wissen. Angetrieben wird er von der Frage, die wohl die häufigste zu Weblogs ist: Bitte, wer ist das...? Tagelang verwickelt sich Liszt mit seinem Gegenüber dann in humorige Kommentare auf meist halb-humorige Ausgangsstatements, und das, nur um mehr über die Person hinter der Persona herauszufinden. Selten gelingt dies freilich.

Zuletzt hat Liszt einen neuen Spleen entwickelt. Er durchstreift quasi anonym ihm bisher unbekannt gebliebene, also fremde Weblogs. Der Vorteil liegt für ihn auf der Hand. Er fröhnt inneren Vorlieben und muss sich nicht zeigen. Es ist wie in früheren Träumen, als er mit dem Rad durch eine Gruppe nackt am Fluß Badender fuhr, um sich schaute und selber nicht gesehen wurde - es war ja ein Traum.

Auf einer dieser Erkundungstouren im Web traf Hirsch auf "Mondschein". Mondschein muss eine Frau sein, war sich Liszt sicher. So angezogen, wie er von Mondschein und den Themen von Mondschein war, konnte nur ein weibliches Wesen hinter diesem Pseudonym stecken. Mondschein hatte nur eine ganz kleine Gruppe auf ihrem Blog angezogen, war also relativ "allein". Was Liszt wunderte, denn Mondschein verriet auf dem Mondschein-Blog allerintimste Geheimnisse. Etwa, dass sie am Vorabend "mit einer Freundin" im "Beefsteak d'oré" gegessen hatte und die Mousse au chocolat gar himmlisch war....

[Fortsetzung folgt]

Hermann Liszt wie der Rest [Blogs?, so was tolles kann es ja gar nicht geben] frei erfunden.

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