Helsinki, 1

Aus den Notizheften des Hermann List
(Ein Männerkitsch-Pseudoschlüsselroman
frei nach Martin Sutter und in Serie)

Vorspann

"Berührt die Liebe das Gefühl oder doch immer nur das Ego...?" Mit diesem dürren und zugleich aufgeblasenen Satz schließt das gerade mal halbgefüllte Notizbuch des Hermann List, angefangen, wie es heißt, im "Spätsommer 2008". Ab 14. November des Jahres riss für Freunde der Kontakt zu List ab. Tage davor hatte er sich mit dem kryptischen Hinweis verabschiedet, das geplante Fest zu seinem 40. Geburtstag werde doch nicht statt finden. Er werde nach Helsinki verreisen - und dort "alleine auf die Lebensmitte" warten.

"Wie ein schlechter Kaurismäki", ätzte Lutz, der ungewollt zum Nachlassverwalter von Hermanns Kladde wurde. List las wenige Tage vor seinem Verschwinden aus Wien nach einem mit Lutz verdrücktem T-Bone-Steak und zwei Flaschen Wein aus seinem "Traumtagebuch" vor. Eigentlich, so erinnert sich Lutz, ging es um die Sequenz immer ähnlicher Träume: List träumte sein Begräbnis. Und dieses Begräbnis schien sich nächteweise durchzuvariieren. Einmal, so berichtet Lutz Lists Traum, hätten "die Witwen" am Grab gestanden haben. Doch dann sei er, List, wieder aus dem Grab auferstanden und habe "die Witwen zusammengeputzt", weil sie den falschen Wagner als Begräbnismusik ausgesucht hatten. "Du bist ein bescheuerter Hetero-Pathetiker", habe er Lutz List an den Kopf geworfen. "Hetero-Peripatetiker", befand List laut Lutz und fand sich dabei offenbar besonders witzig. Kurz, der Abend schien wie immer im männlich Uneigentlichen geendet zu haben. List ließ das Traumtagebuch liegen, Lutz pickte es auf, vergas aber noch am selben Abend, es List zurückzugeben. Man war ja auch ordentlich bedient vom blutigen Fleisch und dem roten Wein.

Jedenfalls meinte Lutz, ich solle die "Kladde" (Lutz war Deutscher) mit den Träumen, "dieses komische Notizhef", so Lutz despektierlich, aufheben und für die Nachwelt sichten. "Steht sicher Bedeutendes zur Musikgeschichte drinnen", so Lutz.

Seit Lists verschwinden ist ein Jahr vergangen. Hinterlassen hat er Textfetzen in Buchform. Und momentan bleibt nichts über, als dieses Leben aus Bruchstücken weiter zu erzählen. So es denn überhaupt erzählenswert ist.

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